Ein Nerv, der Leben verändert

Er ist der faszinierendste Nerv unseres Körpers – und spielt eine Schlüsselrolle in der Behandlung von Rückenmarksverletzungen: der Vagusnerv. Professor Michael Kilgard hat einen Weg gefunden, seine Fähigkeiten zu nutzen. Nach Teilnahme an seiner klinischen Studie können die ersten querschnittsgelähmten Menschen ihre Hände wieder besser bewegen. Vom Beginn einer revolutionären Therapie.

Schon einmal vom Vagusnerv gehört? Er verläuft vom Gehirn durch den Hals bis in den Bauchraum. Er ist einer der längsten Nerven im Körper und reguliert automatisch lebenswichtige Funktionen wie die Herzfrequenz oder die Verdauung. Im Vergleich zu motorischen Nerven, die wir für Bewegungen nutzen, ist der Vagusnerv nicht willentlich steuerbar. Das Spannende: Wenn man diesen Nerv während der Therapie mit elektrischen Impulsen stimuliert, dann können sich neue Nervenverbindungen bilden – was im besten Fall Bewegungen ermöglicht.

Eine neue Ära der Nerventherapie

Der Nervus Vagus ist von außen leicht zugänglich – was ihn sehr attraktiv für die Behandlung neurologischer Erkrankungen wie Epilepsie oder Tinnitus macht. Prof. Kilgard hat sich genau das zunutze gemacht. Gemeinsam mit seinem Team an der University of Texas in Dallas forscht er seit 25 Jahren an den besonderen Fähigkeiten des Nervs. Michael Kilgard ist ein Vorreiter auf dem Gebiet der Vagusnerv-Stimulation, kurz „VNS“, und hat bahnbrechende Entdeckungen erzielt: „Die Stimulation funktioniert – das haben wir bei Schlaganfallpatienten bereits in Kombination mit Physiotherapie getestet“, so Kilgard.

Auf den ersten Blick scheinen Schlaganfälle und Querschnittslähmungen wenig gemeinsam zu haben. Doch es gibt eine entscheidende Verbindung: In beiden Fällen sind Nervenzellen im zentralen Nervensystem beeinträchtigt oder gestört. Betroffene können also je nach Verletzungsgrad unter anderem ihre Hände, Arme und Beine nicht länger bewegen. „Wir haben herausgefunden, dass die Vagusnerv-Stimulation auch bei Querschnittslähmung hilft. Wir wollen deshalb Geräte entwickeln, die Menschen mit Rückenmarksverletzungen helfen sollen, ihre Arme und Beine wieder selbst zu kontrollieren.“

Wir haben herausgefunden, dass die Vagusnerv-Stimulation auch bei Querschnittslähmung hilft.

So funktioniert die Vagusstimulation

Kilgard und sein Team haben den Prozess der VNS stark modernisiert. Früher mussten Elektroden um den Nerv gewickelt werden. Zusätzlich wurde ein Stimulationsgerät auf Höhe der Brust implantiert und mit den Elektroden verbunden. Heute ersetzt ein winziger Chip die alten Drahtelektroden und den großen Stimulator. Der Eingriff dauert nicht länger als 30 Minuten und ist deutlich schonender für die Patienten.

Ein kleiner, um den Hals getragener Bügel versorgt den Chip mit Energie. Sobald der Stimulator eingeschaltet ist, werden sanfte Stromstöße über den Nerv zum Gehirn gesendet. Dort werden jene Regionen aktiviert, die beispielsweise für das Lernen von neuen Bewegungen zuständig sind. Dann passiert etwas Bemerkenswertes. Etwas, das Forscher Plastizität nennen. Das Gehirn lernt, dass es seine Schaltkreise verändern und noch intakte Bahnen ansteuern muss, um bestimmte Bewegungen auszulösen: „Wenn man den Nerv während einer bestimmten Rehabilitationsübung stimuliert, verdreifacht sich die Anzahl neuer Nervenverbindungen. Das hilft Menschen, sich nach einer Rückenmarksverletzung schneller zu erholen“, ist der Neurowissenschaftler überzeugt.

Hoffnungsschimmer für Querschnittsgelähmte

Doch was bedeuten all diese technischen Fortschritte in der Praxis? Hier kommt der entscheidende nächste Schritt: die Anwendung an Patienten. Die ersten, die von der VNS profitieren, sind Menschen mit inkompletten Rückenmarksverletzungen. Menschen wie Amanda. Sie hatte 2015 einen Autounfall und ist seitdem querschnittsgelähmt: „Zum Glück habe ich einiges an Beweglichkeit zurückgewonnen. Ich kann meine Arme ganz gut bewegen. Aber bei meinen Händen – da tut sich leider nicht viel.“

Amanda ist eine von insgesamt 19 Personen, die an der klinischen Studie von Michael Kilgard in Texas teilgenommen haben. „Ich habe mich dazu entschieden, weil es einfach Sinn ergab und diese neue Therapiemöglichkeiten am wenigsten invasiv erschien. Und ich habe enorme Fortschritte gemacht“, so die US-Amerikanerin.

Die Studienteilnehmer wurden jeweils über eine Dauer von 36 Tagen behandelt. Dabei mussten sie Aktivitäten durchführen, die ihnen im alltäglichen Leben Probleme bereiten – wie ein Hemd zuknöpfen, Schuhe binden oder Knöpfe drücken.

„Wir integrieren spielerische Elemente, bei denen die Patienten Knöpfe drücken oder bestimmte Bewegungen ausführen müssen“, so Kilgard. Währenddessen wird der Stimulator über eine App aktiviert und Signale an das Gehirn gesendet. Diese Signale stärken die Nervenverbindungen: „Die Bewegungen werden dann immer stärker, und der Spiel-Highscore der Patienten steigt, was ihre Motivation zum weiteren Training erhöht“, berichtet Studienleiter Michael Kilgard.

Durchbruch in der Therapie

Von der Grundlagenforschung im Labor bis zur klinischen Anwendung am Patienten ist es ein schwieriger und langer Weg. Umso bedeutender ist es, dass Michael Kilgard und sein Team die Studie erfolgreich beenden konnten. Die Veröffentlichung der Resultate werden mit Spannung erwartet. Sind die Ergebnisse signifikant und die Therapie somit effektiv? „Die Resultate sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber sie sind positiv“, so der Texaner. Die Patienten können Gegenstände tatsächlich besser greifen, und die Forscher stellten eine eindeutige Verbesserung der Handfunktion fest. „Wir haben das 25 Jahre geplant. Es war ein echtes Abenteuer und jeder dieser Menschen hat eine besondere Geschichte. Wir freuen uns sehr darauf, aus derzeit 19 zukünftig 1.900 Patienten zu machen“, verkündet der Neurowissenschaftler stolz. Nach erfolgreicher Zulassung könnte die Therapie schon in wenigen Jahren verfügbar sein und vielen Menschen helfen. Für Patienten wäre es dann sogar möglich, das Gerät nach einem kurzen Eingriff in der Klinik ganz einfach zu Hause zu benutzen.

Diese klinische Studie beweist das enorme Potenzial der Vagusstimulation. Sie ist eine echte Hoffnung für Betroffene und birgt die Kraft, ihre Lebensqualität nachhaltig zu verbessern. Kilgard und sein Team arbeiten unermüdlich weiter, um als Nächstes auch die Geh-, Blasen- und Darmfunktion verbessern zu können. Damit querschnittsverletzte Menschen wie Amanda ein selbstständigeres Leben führen können: „Meine größte Hoffnung ist es, wieder in jeder Hinsicht unabhängig zu sein. Ich bin auf dem besten Weg dorthin.“

Wings for Life hat das Vorläuferprojekt und die klinische Studie von Prof. Michael Kilgard bereits mit insgesamt 1,1 Millionen Euro unterstützt. Vielen Dank, dass Sie mit Ihren Spenden Projekte wie diese ermöglichen und uns helfen, eine Heilung für Querschnittslähmung zu finden.

*Was ist neuronale Plastizität?

Die Architektur unseres Gehirns und Rückenmarks verändert sich täglich. Nach neuen Erfahrungen oder Impulsen entstehen neue Verbindungen zwischen Nervenzellen. Vorhandene Wege werden ausgebaut und ungenutzte wieder zurückgebaut. Diese Fähigkeit zur Neuverschaltung von Nerven nennt man neuronale Plastizität. Ohne sie könnten wir nichts Neues lernen.

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Image Credits: Jonathan Zizzo